kicker: "Viele werden sich noch wundern"

kicker: "Viele werden sich noch wundern"
22.12.2011

kicker 

Mit Dynamo Moskau steht er auf Platz drei: Kevin Kuranyi (29) über Schalke, Stuttgart, die Play-Offs in Russland, Mentalitäten und einen großen Fehler. 

kicker: Herr Kuranyi, nach dem letzten Spiel mit Dynamo machten Sie Urlaub in ihren Heimatländern Brasilien und Panama. Weihnachten verbringen Sie nun aber in Stuttgart. Sind Sie doch mehr Deutscher als Brasilianer oder Panamaer?
Kevin Kuranyi: Wenn ich in Rio bin, fühle ich mich als Brasilianer, durch und durch. In Panama ergeht es mir genauso. Ebenso in Deutschland.

kicker: Wie schwer fällt der Wechsel zwischen den Lebensstilen?
Kuranyi: Eher leicht. Ich habe ja überall sehr lange gewohnt, habe das jeweilige Lebensgefühl in mir, das Organisierte und das Spontane.

kicker: Hatten Sie in Brasilien Kontakt zu Ihren Ex-Kollegen Marcelo Bordon und Lincoln?
Kuranyi: Wir haben telefoniert, Marcelo hat mich eingeladen. Aber er wohnt bei Sao Paulo, ich war in Rio, da fehlte Zeit. Wie bei Lincoln.

kicker: Der spielte zuletzt bei Absteiger Avai. Ist Brasilien eine Option?
Kuranyi: Ja, vor allem Klubs in Rio. Dort bin ich aufgewachsen, habe viele Freunde. Die haben mir auch jetzt gesagt: Spiel doch hier.

kicker: Und was antworteten Sie?
Kuranyi: Dass ich für alles offen bin. Aber ich habe ja meinen Vertrag bei Dynamo bis 2015 verlängert und ich fühle mich dort wohl.

kicker: Wegen der Umstellung der Liga auf den europäischen Kalender wird nach der Winterpause im März das Meister-Play-off fortgesetzt. Beeinflusst das die Vorbereitung?
Kuranyi: Es wird da mehr Wirbel gemacht, als es in der Praxis ist. Von 44 Spielen haben wir 32 absolviert, jetzt ist Pause. Im Januar geht es dann ins Trainingslager: Sotschi, Dubai, Portugal und die Türkei.

kicker: Wird das Play-off Kopfsache?
Kuranyi: Ja, weil es sich um ein Play-off der besten Acht handelt, gibt es fast nur 6-Punkte-Spiele. Kopf und Konzentration sind da sehr wichtig.

kicker: Der Rückstand auf Tabellenführer Zenit beträgt sieben Punkte. War es das schon für Dynamo?
Kuranyi: Wir haben zuletzt gut gespielt, die meisten Spiele gewonnen. Das gibt uns Selbstvertrauen.

kicker: Was spricht für Dynamo?
Kuranyi: Wir kombinieren gut und haben mit Igor Semshov und Andriy Voronin (beide 11 Tore, A.d.R.) und mir (zehn) drei Spieler unter den Toptorschützen der Liga und mit Aleks Kokorin ein Toptalent.

kicker: Er ist bereits Nationalspieler. Schafft er 2012 den Durchbruch?
Kuranyi: Ich sagte ihm zu Saisonstart: Du schaffst jetzt den Durchbruch. Wie ich es bei Schalke zu Benedikt Höwedes sagte - heute einer der besten Verteidiger Deutschlands. Kokorin wird sicher schon bei der EURO Akzente setzen.

kicker: Ex-Bundesligaspieler Voronin gilt vielen als bester Spieler der Saison. Was macht ihn so stark?
Kuranyi: Neben Toren und Assists bringt er große Erfahrung aus den Stationen in Deutschland und England ein. Davon profitiert das Team. Und er wächst mit der Aufgabe.

kicker: Wie wird gesprochen?
Kurnayi: Mit Voronin und auch "Zwetschge" Misimovic Deutsch, sonst Englisch. Und auch ein wenig Russisch. Es reicht, um in der Stadt ein paar Besorgungen zu machen.

kicker: Sie sind im Mannschaftsrat. Stimmt es, dass Sie sich selbst beim Essensplan eingebracht haben?
Kuranyi: Der eine oder andere Spieler muss Lernen, dass Mayonnaise oder Ketchup vor einem Spiel nicht das Richtige ist. Das sagte ich unserem Doc und erzählte ihm von den Essensplänen in deutschen Klubs.

kicker: Wird Ihr Rat angenommen oder zeigt man sich empfindlich?
Kuranyi: Ob Präsident oder Trainer, wir haben ein gutes Verhältnis. Daher spreche ich Dinge an. Dort, wo ich denke, dass ich Hilfe leisten kann. Vieles wird angenommen.

kicker: Reifen Sie in Ihrer Rolle?
Kuranyi: Ich versuche, meine Erfahrung weiterzugeben. Ob beim Organisatorischen oder im Umgang mit Spielern wie Kokorin. Ich kenne das sehr professionelle deutsche Umfeld, davon können andere lernen.

kicker: Andererseits haben Sie sich lobend über Dynamos Trainingsgelände geäußert. Was ist da so toll?
Kuranyi: Auch bei Schalke war alles nagelneu, als ich kam. Aber hier haben sie alles dreifach getoppt. Was aber der eine oder andere Klub hier lernen muss ist, damit zu arbeiten. Da fehlen manchmal Experten. Die braucht es aber, sonst bringen all diese Wellness-Räume nichts.

kicker: Haben Sie den Schritt auch schon mal bereut?
Kuranyi: Viele haben wohl Angst, nach Russland zu gehen. Aber ich bin froh, hier zu sein, fühle mich privat wohl, sportlich läuft es super. Die Liga ist attraktiver, als sie viele im Ausland sehen. Ich sage aber offen: Man verdient auch gutes Geld.

kicker: "Legionärsliga", stört Sie das?
Kuranyi: Das ist nicht schön, aber die Liga wird stärker, es wird viel investiert, und durch die WM 2018 kommt nochmal ein Boom. Viele werden sich noch wundern, was hier in ein paar Jahren abgeht. Ich kenne viele Spieler, die auch gerne mal in Russland spielen würden.

kicker: Welche?
Kuranyi: Keine Namen bitte.

kicker: Wie bewerten Sie Projekte wie Anschi, das Eto'o 20 Millionen Euro Jahresgehalt zahlt?
Kuranyi: Es ist doch wunderschön, dass Leuten der Fußball so wichtig ist, dass sie so viel investieren. Aber ich weiß, dass es für viele schwierig ist, solche Beträge zu akzeptieren. Wenn sie stimmen. Auch für andere Klubs, die nicht so viel Geld haben und fast chancenlos werden. Es hat eine gute und schlechte Seite.

kicker: Sie leben in einem Wohnbereich außerhalb Moskaus, abgekapselt auch durch Security. Bekommen Sie eigentlich vom normalen Leben in Moskau etwas mit?
Kuranyi: Richtig abgekapselt ist das nicht. Das Leben in solchen Wohnvierteln kenne ich ja aus Brasilien, aus Panama. Aber ich laufe auch über den Roten Platz, lerne Leute und Mentalität kennen.

kicker: Kommt 2015 dann Brasilien oder doch noch einmal Deutschland?
Kuranyi: Das ist alles noch weit weg. Ich fühle mich in Deutschland sehr wohl, daher bin ich für alles offen.

kicker: Zu Ihren Ex-Klubs. Kann Schalke Meister werden?
Kuranyi: Warum nicht? Da passt alles gut zusammen und könnte zu etwas ganz besonderem führen. Aber auch der VfB nimmt aktuell eine gute Entwicklung, sie haben junge Spieler wie Timo Gebhart, die Nationalspieler werden können. Und ich bin mir sicher, dass Fredi Bobic dem Verein die Freude bringen wird, wie früher als Spieler.

kicker: Bereuen Sie Ihren Entschluss, 2008 gegen Russland aus dem Stadion und damit der Nationalmannschaft gegangen zu sein?
Kuranyi: Ich tat diesen Schritt, aber ich habe auch daraus gelernt.

kicker: Was?
Kuranyi: Dass man zuerst nachdenken sollte, bevor man Entscheidungen trifft. Aber ich kann heute damit leben, bin mit der Entscheidung im Reinen. Die Nationalelf gehört zu den Top drei, das freut mich.

kicker: Ihre Prognose für die EURO?
Kuranyi: Deutschland wird Europameister. Und ich juble vor dem Fernseher. Schwierig wird es nur 2014 in Brasilien. Da muss ich dann mein Herz splitten.