Kicker: Reiche Welt! Heile Welt?

Kicker: Reiche Welt! Heile Welt?
30.08.2010

Kicker 

Kevin Kuranyi (28) in Moskau - das ist eine der spannendsten Geschichten des Sommers. Der kicker hat ihn besucht. 

Moskau? Von wegen Moskau! Wer Kevin Kuranyi besuchen will, muss sich erst mal zwei Stunden durch den stets hoffnungs­los überlasteten Verkehr gen Nor­den Richtung St. Petersburg quälen. Auch Kuranyi hat die knapp 40 Kilo­meter in seinen ersten Arbeitsta­gen in nervtötender Schleichfahrt zurückgelegt - und sich dann ganz flugs von der Idee verabschiedet, ins Herz der Zehn-Millionen-Metropole mit ihren noblen Klubs und feinen Restaurants ziehen zu können: "Ich hab' schnell gemerkt: Das wird nix." Stattdessen wohnt er jetzt dort, wo der Puls seines Arbeitgebers schlägt: Nowogorsk, ein von Bir­kenwäldern ummanteltes Viertel der 180 000 Einwohner zählenden Schlafstadt Chimki. Hier haben die Kuranyis Einzug gehalten in einer 350-Quadratmeter-Villa mit Schwimmbad und ausreichend Gästezimmern, um die Mutter, den Stiefvater, den Bruder und den ein oder anderen Freund in diesen ers­ten Russland-Wochen beherbergen zu können. Ein Sicherheitsdienst schirmt die hermetisch abgeriegelte Siedlung der Gutbetuchten von der Welt der Gierigen und Neugierigen ab. Alles ist viel kleiner, grüner und ruhiger als in Moskau, das hier so weit entfernt scheint.

"Als ich jung war, wollte ich in die Stadt. Und ich genoss es, wenn viel um mich herum los war", sagt der 28-Jährige. "Jetzt geht es darum, dass ich mir meine Kraft fürs Trai­ning aufspare und nicht permanent den Stress habe, ob ich pünktlich ankomme. In drei Minuten bin ich am Trainingsplatz." Trainingsplatz? Es ist ein vier­stöckiger Palast, der da vor zwei Jahren in die Pampa gesetzt wurde, mit integriertem Jugend-Internat, einem Hotel und Restaurant für die Profis vor den Heimspielen, mit hochmodernem Fitnesstrakt und überdimensioniertem Well­ness- Bereich. Daneben liegen zwei beheizbare Naturrasenplätze und ein Kunstrasenfeld. Dank einer Son­dergenehmigung der Dynamo-Füh­rung darf Kuranyi den kicker­-Be­sucher durch die von über drei Meter hohen Mauern gesicherte Anlage führen, die sonst kaum einer zu Gesicht bekommt. Und er macht dies mit sichtbarem Stolz. "Schalke war schon etwas Besonderes, aber hier ist alles noch dreimal so groß", sagt er. Auch um zu unterstreichen, dass seine Unterschrift unter den Dreijahresvertrag neben den kol­portierten 18 Millionen Euro Gehalt (netto, versteht sich) sehr wohl auch sportliche Beweggründe hatte: "Ich war begeistert, was der Verein zu bieten hatte." Das kann er auch sein. Was die Rahmenbedingungen betrifft, hat Dynamo durchaus Champions-League-Niveau. Und die Verdienst­möglichkeiten lassen sich schon beim Blick auf den Fuhrpark der Spieler erahnen. Selbst der Ersatz­torhüter fährt im 555 PS starken und über 100 000 Euro teuren BMW X6 vor. Auch Kuranyi hat sich festschreiben lassen, dass er ein deutsches Fabrikat fahren darf, und braust jetzt stolz im Mercedes ML heran.

Reiche Welt! Heile Welt? Im kras­sen Widerspruch zum Luxus, der hier ungeniert zur Schau gestellt wird, steht die sportliche Wirk­lichkeit. Der Klub dümpelt im Mittel­feld der russischen Premier Liga rum, was so gar nicht zum Anspruch passt. Der Titel ist schon elf Spieltage vor Saisonende futsch, die Champi­ons- League-Plätze liegen gleichfalls unerreichbar fern. Als letzte vage Hoffnung bleibt Platz fünf und die Qualifikation für die Europa League. "Ich glaube fest daran, dass wir das erreichen werden", sagt Kuranyi, und in diesen Worten schwingt auch eine große Portion Hoffnung mit.

Denn zuletzt war Dynamo eher groß darin, seine Ziele zu verfeh­len. Die letzte Meisterschaft liegt 34 Jahre zurück, im Vorjahr reichte es nur zu Platz acht. Doch jetzt soll alles besser werden. Der Rubel rollt, und dafür sorgt die staatliche AußenhandelsbankWTB, die 75 Pro­zent der Klubanteile übernommen und den Geldhahn aufgedreht hat. Ein Dutzend neuer Spieler wurden in den vergangenen Monaten ver­pfl ichtet, und weil sich der Erfolg trotzdem nicht einstellen wollte, wurde vor vier Monaten auch der Trainer ausgetauscht. "Im nächsten Jahr werden wir um die Meister­schaft spielen", tönt Sportdirektor Konstantin Sarsianiyu.

Kuranyi soll bei diesem kühnen Unterfangen zur neuen Gallions­figur werden. "Er ist der Stürmer, den wir brauchten und gesucht haben", so Sarsianiyu. Mit diesen Worten hat er auch Kuranyi den Mund wässrig gemacht bei den Vertragsgesprächen im Mai und ihm versichert, es würden weitere Top-Spieler geholt, um ganz oben mitmischen zu können.

Bei den Fans indes ist die Skepsis offenbar weitaus größer als bei den Funktionären. Im Gegensatz zu den Lokalrivalen Spartak und ZSKA war der zu Sowjetzeiten dem Geheim­dienst KGB unterstellte Verein bei den Moskauern nie besonders beliebt, und das hat sich nicht geän­dert. Zu den Heimspielen kommen selten mehr als 6000 Zuschauer, was auch daran liegen mag, dass das Team derzeit in Chimki weitab der letzten Metrostation spielt. Dort, wo das baufällige Dynamo-Stadion steht, soll bis 2012 eine supermo­derne Arena für 45 000 Zuschauer aufgebaut werden.

Ob Kuranyi dort zum Eröff­nungsspiel auch auflaufen wird, bleibt abzuwarten. Der einst für Gladbach, Mainz, Köln, Leverkusen und Hertha stürmende Ukrainer Andrey Voronin (31), der im Win­ter verpflichtet und wie Kuranyi mit einem Vertrag bis Dezember 2012 ausgestattet wurde, weiß um die Gesetzmäßig­keiten, auf die man sich bei Dynamo einzustellen hat: "Sie wollen den schnellen Erfolg. Stellt der sich nicht ein, schmeißen sie uns alle wieder raus." So weit muss es ja nicht kommen. Sportlich hat Kuranyi beachtlich schnell Fuß gefasst und mit seinen beiden Toren vor einer Woche beim 3:0 im Derby gegen Lok Moskau die Hoffnungen genährt, er könne den kriselnden Hauptstadt-Verein aus dem Dauertief schießen. Sein Status lässt sich schon beim Betreten des Fanshops erkennen. Das Trikot mit der 22 und seinem Namen hängt als Blickfang auf einem Ehrenplatz.

Kuranyi genießt dieses Gefühl, auf Anhieb gefragt, anerkannt und akzeptiert zu sein. Er spricht von der Champions League und vom Nationalmannschafts-Comeback, und dass er diese Ziele mit Dynamo erreichen könne: "Der Wechsel wird meine Karriere fördern." Ein optimistisches Gemüt war schon immer sein Markenzeichen. Er wirkt entspannt und mit sich im Reinen, auch wenn er sich das Ein­leben ein bisschen leichter erhofft hat. Der Aktionsradius beschränkt sich weitgehend auf die eigenen vier Wände, das Trainingsgelände, die zwei Kilometer entfernte Shop­ping Mall und ein paar Restaurants in der Nähe. Die Suche nach einem internationalen Kindergarten für Söhnchen Karlo (4) gestaltet sich für ihn und seine Frau Victorija schwie­rig. Sehnsüchtig wartet die Familie auf die neue Satellitenschüssel, damit sie sich nicht nur auf ZDF, RTL2 und die mitgebrachten DVDs beschränken muss.

Man kann den Eindruck gewin­nen, Kuranyi sitze im goldenen Käfig. Doch hat es nicht den Anschein, dass ihm die fraglos nicht einfachen äußeren Bedingungen zusetzen würden. "Ich bin jetzt alt genug, solche Dinge anzunehmen", versichert er. Und verneint ebenso glaubhaft die Frage, ob schon Zwei­fel aufgekommen sind an dem im Mai gefassten Entschluss: "Ich habe auf jeden Fall alles richtig gemacht."