FAZ: Der Tag, als die Fans aufhörten zu pfeifen

FAZ: Der Tag, als die Fans aufhörten zu pfeifen
24.03.2010

Frankfurter Allgemeine Zeitung 

Es hat lange gedauert, bis sie zueinanderfanden - die Fans des FC Schalke und Kevin Kuranyi. Daraus ist die große Liebe geworden, die sich mit Triumphen in Meisterschaft und nun im Pokal noch ins Unermessliche steigern würde.

Mit der Zeit werden die Gefühle in einer Beziehung oft schwächer oder gehen ganz verloren. Der Alltag frisst die Liebe auf. Bei Kevin Kuranyi und Schalke 04 ist es umgekehrt. Erst im fünften Jahr einer zuweilen komplizierten Verbindung haben die Fans und der Stürmer zueinandergefunden. Kuranyi wird geliebt, geachtet, gefeiert, wie er es sich nach vielen Pfiffen und Demütigungen nicht mehr hätte träumen lassen. Nach seinem schönsten Erlebnis auf Schalke befragt, nennt Kuranyi "den Tag, als die Fans aufgehört haben zu pfeifen".

Kaum ist der neue Liebling emotional "auf" Schalke angekommen, stellt sich aber die Frage, ob diese ungewöhnliche Herz-Schmerz-Geschichte vielleicht schon bald wieder zu Ende ist. Soll er gehen, wenn's am schönsten ist? Unter den zahlreichen Interessenten sollen renommierte Klubs wie Juventus Turin sein. Oder soll er bleiben? Die Antwort hängt längst nicht mehr von der sportlichen Leistung ab, sondern von den finanziellen Verhältnissen des hochverschuldeten FC Schalke, der an diesem Mittwoch (20.30 Uhr) im Halbfinale gegen Bayern München das Endspiel des DFB-Pokals erreichen und eine stattliche Zusatzeinnahme erwirtschaften kann.

Ginge es nur nach Leistung, müsste Felix Magath alles daransetzen, den mannschaftsdienlichen Angreifer zu halten, der mit fünfzehn Treffern den zweiten Platz in der Bundesliga-Torschützenliste belegt. Als Trainer ist Magath mitverantwortlich für den Formanstieg Kuranyis, als Manager muss er das Budget im Auge behalten und verhindern, dass Schalke weiter über seine Verhältnisse lebt.

Magath äußert sich widersprüchlich

In der Winterpause hatte er den seit Jahren erfolgreichsten Torschützen seiner Mannschaft verkaufen wollen, um eine Ablöse zu erzielen und die Personalkosten zu senken. Kuranyi lehnte einen Wechsel zum englischen Mittelklasseklub FC Sunderland jedoch ab. Lieber wollte er die gerade erst gewonnene Gunst der Fans genießen und mit seinen Toren den Verein voranbringen, dem er seit seinem Umzug in den Gelsenkirchener Ortsteil Buer auch räumlich nah ist.

Seitdem äußert Magath sich widersprüchlich. Mal sagt er, er wäre "nicht traurig", wenn Kuranyi den Klub verließe, weil er anderswo mehr Geld verdienen könne. "Wenn er sich für andere Arbeitgeber interessant macht und deswegen bis zum Sommer viele Tore schießt, ist das gut für den Verein." Schalke sei nur dann in der Lage, ein seriöses Angebot zu unterbreiten, wenn feststehe, ob der Klub in der kommenden Saison für die Champions League qualifiziert sei. Dann wieder lässt der Impresario durchblicken, die Lage habe sich verbessert, und es sei realistisch, mit Kuranyi über einen neuen Vertrag zu verhandeln.

Kuranyi lässt Tore sprechen

Kuranyi rechnet damit, dass es in den nächsten Tagen zu einem Gespräch kommt: "Der Zeitpunkt wäre gut, weil dann Ruhe einkehren würde und ich wüsste, wie es weitergeht." Unter Umständen wäre der Spitzenverdiener sogar zu moderaten Abstrichen beim Gehalt bereit. Genau darauf spekuliert Magath offenbar. "Ich habe es immer vermieden, Spieler mit finanziellen Mitteln zu halten. Geld ist nie die richtige Stimulanz", behauptet der Manager. Kuranyis Herz votiert für Schalke, der Verstand wendet ein, "das Gesamtpaket muss stimmen".

Auf dem Fußballplatz kann der Stürmer die Ungewissheit, die sich aus Magaths undurchsichtiger Strategie ergibt, bestens ausblenden. Im Gegensatz zu vielen anderen Profis, die unter solchen Situationen leiden, hält Kuranyi sein Niveau in dieser schwierigen Phase. Er lässt Tore sprechen und äußert sich sonst äußerst diplomatisch - auch in einer anderen für ihn wesentlichen, scheinbar längst geklärten Angelegenheit. Kuranyi hat immer noch ein Fünkchen Hoffnung, wieder in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden.

Toreschießen und Abwarten

Bundestrainer Joachim Löw hatte ihn im Herbst 2008 ein für allemal aus dem Kreis der Auserwählten verbannt, weil Kuranyi die Mannschaft während des WM-Qualifikationsspiels gegen Russland verlassen hatte, aus Frust darüber, dass er nur auf der Tribüne sitzen durfte. Obwohl der Deserteur seinen Fehler glaubhaft bereut und mehrmals, auch öffentlich, um Entschuldigung gebeten hatte, blieb Löw bei seinem Urteil, das eine Strafe ohne Bewährung vorsieht.

Bei anderen Problemfällen zeigte der Bundestrainer mehr Nachsicht, etwa bei Lukas Podolski, der den deutschen Mannschaftskapitän Michael Ballack beim Länderspiel in Wales ohrfeigte. Löw befindet sich allerdings auch in der komfortablen Position, in Podolski und Miroslav Klose zwei Stürmer aufbieten zu können, die in der aktuellen Bundesligaspielzeit jeweils zwei Tore erzielt haben. Auch Kloses Münchner Mannschaftsgefährte Mario Gomez reicht an Kuranyis Konstanz nicht heran, gilt aber für die Weltmeisterschaft in Südafrika als gesetzt.

All das mag Kuranyi schmerzen, heftig sogar, aber er fügt sich seinem Schicksal und zeigt sich geläutert. Er tut das Richtige und sagt das Richtige oder zumindest nichts Falsches; er schießt Tore und wartet in Ruhe ab. Solange das so bleibt, kann Kuranyi (außer bei Löw) nur gewinnen.