FAZ: "Ich habe meinen Frieden gefunden"

FAZ: "Ich habe meinen Frieden gefunden"
12.10.2011

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der 29 Jahre alte Kevin Kuranyi spielt seit 2010 für Dynamo Moskau. Der ehemalige Fußball-Nationalspieler lief 261 Mal in der Bundesliga auf, für den VfB Stuttgart und für Schalke 04.

An diesem Samstag steht für Sie das Spitzenspiel der russischen Liga gegen Tabellenführer Zenit St. Petersburg an. Glauben Sie an den Favoritensturz?
Wenn wir gewinnen, können wir noch mehr Druck machen. Zenit und ZSKA Moskau spielen seit Jahren auf einem sehr hohen Niveau, wir haben jetzt aufgeholt und sind mit in der Spitze. Dynamo entwickelt sich stetig nach oben.

Sie gelten als Führungsfigur im Klub, viele machen auch den sportlichen Höhenflug an Ihnen fest.
Ich bringe mich im täglichen Betrieb intensiv ein - wie andere auch.

Und wie?
Am Anfang gab es ein paar Dinge, die waren nicht optimal, wie die Ernährung zum Beispiel. Es gab Ketchup und Mayonnaise zum Essen vor dem Spiel. Oder die Klamotten. Alle kamen in verschiedenen Kleidern, jetzt kommen alle gleich, das sieht professioneller aus. Auch auf dem Trainingsgelände hat sich einiges getan, obwohl das schon unvergleichlich war.

Inwiefern?
Alles ist viel größer als in Schalke. Ich habe noch nie ein derartiges Trainingszentrum gesehen. Jeder hat sein eigenes Zimmer mit TV und DVD, das man einrichten kann, wie man möchte. Es gibt Basketballplätze, ein riesiges Schwimmbecken mit 50-Meter-Bahn, eine große medizinische Abteilung, einen Fitnessraum, den man am besten mit dem Fahrrad durchquert und drei Mahlzeiten am Tag, wenn wir länger dort sind.

Und was hängt bei Ihnen an der Wand?
Bilder meiner Familie, und es gibt neben der Playstation ein paar deutsche Zeitungen.

Wie dürfen wir uns den Fußball vorstellen, den Dynamo spielt?
Ob Sie es glauben oder nicht, wir werden mit Borussia Dortmund im Meisterjahr verglichen. Schneller, direkter Fußball. Und man sieht der Mannschaft an, wie sehr ihr diese Art Spaß macht. Manche schwärmen und sagen, das ist der beste Fußball, den je ein russischer Verein gespielt hat. Das macht einen stolz.

Wie sieht Ihre Position aus?
Ich spiele oft weiter hinten oder weiche auf die Flügel aus, weil ich oft zwei Mann auf mich ziehe und durch das Ausweichen Platz für den anderen Stürmer schaffen kann.

Für Andrej Woronin, der in Mönchengladbach, Mainz, Köln, Leverkusen und bei Hertha gespielt hat...
Er ist unser Kapitän, und wir spielen wirklich sehr gut zusammen. Er reißt alle mit.

Sie sind Torjäger, inzwischen aber noch mehr ein glänzender Vorbereiter, Sie haben schon bald zehn Treffer vorbereitet. Wie ist es dazu gekommen?
Das ergibt sich vielleicht aus der leicht veränderten Strategie heraus, Räume zu schaffen. Ich fühle mich mit dem Spiel sehr wohl, es lässt mir viele Freiheiten.

Und Sie sind im September zum beliebtesten Spieler der Liga gewählt worden.
Darüber freue ich mich sehr. Es zeigt aber auch, wie wohl ich mich auch sportlich fühle.

Wie reagieren die Fans?
Ich spüre, ich bin beliebt. Die Leute honorieren vielleicht, dass ich offen auf sie zugehe und keine Probleme habe, mich anzupassen. Ich habe nie gesagt, ich muss nach Russland, sondern ich freue mich darauf. In Russland geht vieles über die emotionale Schiene. Und die Leute haben andere Beispiele erlebt.

Welche?
Spieler, die nach wenigen Monaten wieder weg waren und wenig Gutes über ihre Zeit hier erzählt haben. Die Menschen hatten den Eindruck, dass sich da mancher nicht viel Mühe gegeben hat, sie und ihr Leben zu verstehen.

Zur Integration der Familie Kuranyi tragen auch die Sprachkenntnisse Ihrer Frau Viktoria bei.
Sie spricht perfekt Russisch, und die Kinder werden immer besser. Es hilft, wenn man sich mit den Leuten unterhalten kann.

Wäre eine Vertragsverlängerung denkbar?
2013 ist noch lange hin. Wer weiß, was da passiert. Vorstellbar ist das sicher, weil sich meine Familie und ich sehr wohl fühlen. Aber auch eine Rückkehr in die Bundesliga schließe ich nicht ganz aus. Zuerst allerdings kommt Dynamo.

Sie haben nicht die Befürchtung, dass Fußballklubs zum Spielzeug der sogenannten Oligarchen werden, die so schnell, wie sie gekommen sind, auch wieder das Interesse verlieren könnten?
Da wird es wohl immer zwei Meinungen geben. Auch in Russland stehen manche Leute diesen Investoren kritisch gegenüber, aber es gibt noch mehr, die gut finden, dass so viel investiert wird. Die Leute sind stolz, wenn der russische Fußball geschätzt und respektiert wird. Viele der Geldgeber, das ist mein Eindruck, haben ein wirkliches Interesse, den russischen Fußball nach vorne zu bringen.

Nach dem schlimmen Flugzeugunglück der Eishockey-Erstligamannschaft Lokomotive Jaroslawl, bei dem auch der deutsche Nationalspieler Robert Dietrich ums Leben kam, gab es viel Kritik an Sicherheitsstandards im russischen Flugverkehr. Haben Sie Sorge?
Was da passiert ist, war für alle ein Schock. Die Angehörigen der Opfer tun mir besonders leid. Es waren lauter junge Menschen, Sportler wie ich, die nur zu einem Spiel fliegen wollten.

Sie müssen oft selbst ins Flugzeug steigen. Tun Sie das mit einem mulmigen Gefühl?
Wenn man daran denkt, was da passiert ist, wird einem schon seltsam zumute. Wir fliegen oft im gleichen Maschinentyp und müssen oft Flüge von mehreren Stunden hinter uns bringen. Ich hoffe nur, dass man jetzt noch etwas mehr über Sicherheit nachdenkt und sieht, wie wichtig eine sorgfältige Kontrolle ist.

In Sachen weite Strecken gibt es eine gute Nachricht: Wladiwostok ist abgestiegen.
Ich wünsche jedem, der absteigt, dass er es gleich wieder hoch schafft. Aber eine weite Reise weniger ist auch nicht schlecht. Wladiwostok war die weiteste.

Gibt es denn zur deutschen Nationalmannschaft und zu Bundestrainer Joachim Löw noch Kontakte? Seit Sie im Oktober 2008 in der Pause des Qualifikationsspiels gegen Russland Stadion und Teamhotel verlassen haben, wurden Sie nicht mehr eingeladen.
Zu vielen Spielern und zu manchem im Umfeld habe ich regelmäßig Kontakt. Ich drücke den Jungs die Daumen und schaue die Spiele, wann immer es geht. Für mich stellt sich das Thema derzeit nicht. Ich habe einen großen Fehler gemacht, bin dafür hart bestraft worden, habe daraus gelernt, und man kann sagen, ich habe meinen Frieden gefunden.