spox.com: "Du hast dich ja schon übergeben"

spox.com: "Du hast dich ja schon übergeben"
18.09.2015

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Von allen aktiven, deutschen Bundesliga-Stürmern traf nur Stefan Kießling öfter als Kevin Kuranyi. Nach fünf Jahren in Russland ist der 33-Jährige nun wieder zurück in Deutschland und sprach mit SPOX über das Training unter Entdecker Felix Magath, seine unglückliche Beziehung zur Nationalmannschaft und seinen Entscheidung pro Dinamo Moskau.

SPOX: Herr Kuranyi, Sie sind in Brasilien aufgewachsen und mit 13 Jahren nach Panama gezogen. Können Sie uns einen kleinen Einblick ihn Ihr Leben dort geben?

Kevin Kuranyi: Das war keine leichte Zeit für mich und meine Familie. Wir hatten nur sehr wenig Geld und haben in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Unsere Wohnung hatte nicht mal 50 Quadratmeter, zu essen gab es meist Reis und Bohnen. Trotzdem war es ein wichtiger Schritt, weil ich mich dort fußballerisch weiterentwickeln konnte.

SPOX: Von dort aus schafften Sie auch den Sprung nach Deutschland. Wie ist der Kontakt zum VfB Stuttgart zu Stande gekommen?Kuranyi: Ein Freund meines Vaters lud mich nach Deutschland ein und fragte beim VfB Stuttgart die Möglichkeit eines Probetrainings an. Der Verein gab mir dann tatsächlich die Chance - und das Training lief so gut, dass man mir ein Angebot für die A-Jugend gemacht hat.

SPOX: Haben Sie gezögert, das Angebot anzunehmen? Für einen so jungen Spieler ist der Schritt in ein unbekanntes Land, dessen Sprache man nicht kann, nicht leicht.

Kuranyi: Nein, nicht wirklich. Mein Ziel war immer, Fußballprofi zu werden - und die Chancen in Deutschland waren da deutlich höher als in Südamerika. Mir war von Anfang an klar, dass ich zum VfB wechseln werde.

SPOX: Ab wann war tatsächlich abzusehen, dass Sie Ihr Ziel erreichen würden?

Kuranyi: Das ist schwer zu sagen. Ich bin von der A-Jugend direkt zu den Profis gekommen und konnte die U23 überspringen. Als ich dann im Trainingslager vor der Saison 2001/02 regelmäßig ran durfte und auch zum Liga-Start gespielt habe, war ich recht sicher, dass es für mich weitergehen werde.

SPOX: Felix Magath holte Sie damals in die erste Mannschaft, haben Sie eine besondere Beziehung zu ihm?

Kuranyi: Auf jeden Fall. Ich habe mit keinem Trainer in meiner Karriere länger zusammengearbeitet als mit ihm. Er hat mir viel beigebracht, mir zu meinem Bundesligadebüt verholfen und immer auf mich gesetzt. Aber es konnte auch richtig hart sein. In einem Trainingslager auf Sylt hatte ich zu viel gefrühstückt. Und das Training danach war wirklich heftig. So heftig, dass ich mich übergeben musste. Meine Mannschaftskollegen haben sich kaputtgelacht. Und was macht Felix Magath? Statt mich aufs Zimmer zu schicken reicht er mir Wasser zum Mundspülen und sagt: Kannst jetzt ja normal weitermachen, Du hast dich ja schon übergeben.

SPOX: Auch auf Schalke war Magath zumindest für kurze Zeit Ihr Trainer. Was hat Sie damals zum Wechsel nach Gelsenkirchen bewogen?

Kuranyi: Ich war jung und wollte etwas Neues erleben. Schalke war immer ein großer Verein mit tollen Fans und vielen Erfolgen. Außerdem konnte ich dort wieder international spielen. Und irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass ich das für meine Entwicklung brauche. Raus aus dem gewohnten Umfeld, weg von dem Verein, bei dem ich schon als Jugendlicher war.

SPOX: Aber selbst Magath konnte Sie anschließend nicht an einem erneuten Wechsel nach Russland hindern...

Kuranyi: Schalke hatte andere Pläne, es gab gar kein Angebot für einen neuen Vertrag. Deshalb war für mich relativ schnell klar, dass sich die Wege trennen würden. Ich wollte gerne eine neue Liga kennen lernen.

SPOX: Sie haben nie einen Hehl draus gemacht, dass das Geld bei Ihrem Wechsel nach Moskau eine große Rolle gespielt hat. Gab es nicht den Gedanken, sich in einer der europäischen Top-Ligen wie England oder Spanien durchzusetzen? Die russische Liga wirkte eher wie ein Rückschritt.

Kuranyi: Natürlich hatte ich diese Gedanken auch, aber die russische Liga ist viel besser als ihr Ruf und Dinamo machte mir ein Angebot, das schwierig zu schlagen und abzulehnen war. Deshalb sind die Verhandlungen mit anderen Vereinen auch relativ schnell gescheitert. Heute kann ich sagen, alles richtig gemacht zu haben, obwohl ich auch gute Angebote von anderen namhaften Clubs hatte. Zwar nicht Real oder Barca - aber der eine oder andere europäische Spitzenklub war dabei. Zum Beispiel einer aus Italien.

SPOX: Bleib der Kontakt zu Magath trotzdem bestehen?

Kuranyi: Ja, wir haben bis heute Kontakt. Erst vor kurzem habe ich ihn zur Restaurant-Eröffnung meines Bruders nach Stuttgart eingeladen. Immer wenn wir uns treffen oder telefonieren, ist es so, als würden wir noch zusammenarbeiten. Wir gehen immer sehr nett und respektvoll miteinander um.

SPOX: Nicht so gut ist dagegen Ihr Verhältnis zur Nationalmannschaft, obwohl Sie immer zu den treffsichersten Bundesliga-Stürmern gehörten. Haben Sie sich manchmal einen Trainer gewünscht, der ein größerer Fan von Kevin Kuranyi ist?

Kuranyi: Das wäre für mich persönlich bestimmt besser gewesen. Aber ich will mich nicht beschweren, ich habe viele Länderspiele gemacht und einige Tore erzielt. Jeder Trainer hat seine Favoriten und bestimmte Spieler-Typen, auf die er steht und setzt. Das muss man als Spieler so hinnehmen.

SPOX: Besonders schwer war das 2006, als Sie nicht für die WM im eigenen Land nominiert wurden. Wo waren Sie, als man Ihnen die Entscheidung mitgeteilt hat?

Kuranyi: Das war die größte Enttäuschung meiner Fußball-Karriere. Ich war zuhause bei meiner Familie, als der Anruf von Jürgen Klinsmann kam. Im ersten Moment brach für mich eine Welt zusammen. Dann allerdings schlief mein kleiner Sohn zum ersten Mal auf meiner Brust liegend ein. Das hat mir ein sehr gutes Gefühl gegeben und mich daran erinnert, dass es im Leben auch andere Dinge gibt, die genauso wichtig sind. Oder noch viel wichtiger.

SPOX: Fühlten Sie sich um den Lohn Ihrer Arbeit gebracht?

Kuranyi: So hart würde ich es nicht ausdrücken, aber es kam schon sehr überraschend für mich. Ich habe damals wahnsinnig hart geackert und in den Spielen unter Klinsmann auch immer getroffen. Irgendwann kommt aber der Punkt, an dem man sich eingestehen muss, dass andere Leute die Entscheidungen treffen. In dem Fall war es eine schlechte Entscheidung für mich.

SPOX: Wenn wir über die Nationalmannschaft reden, kommen wir an einem Abend natürlich nicht vorbei. Auch wenn damals schon viel zu Ihrem vorzeitigen Verlassen des Dortmunder Stadions beim Spiel gegen Russland gesagt wurde: Denken Sie manchmal darüber nach, wie Ihre Karriere im DFB-Team hätte aussehen können, wären Sie damals nicht gegangen?

Kuranyi: Ja, das passiert schon. Gerade wenn man das Team dann zum Beispiel bei der WM 2014 in meinem Geburtsland Brasilien spielen sieht. Aber ich kann das alles heute nicht mehr ändern. Ich habe einen großen Fehler gemacht, aus dem ich gelernt und für den ich mich entschuldigt habe.

SPOX: Erinnern Sie sich noch an den Moment, an dem Sie entschieden haben, zu gehen? Was haben Sie danach gemacht?

Kuranyi: Es war eine Kurzschlussreaktion. Da gibt es ja auch eine Vorgeschichte. Alles hatte sich zugespitzt und mir war alles zu viel und ich musste einfach da weg. Ich bin nach Hause gefahren, habe mit meiner Familie gesprochen und meine besten Freunde angerufen. Die sind dann alle zu mir gekommen und standen mir bei. Dabei ging es gar nicht darum, wer Recht hat und ob es falsch war. Sie haben mich vielmehr abgelenkt.

SPOX: Ihr Image in Deutschland litt sehr unter dem Vorfall. In Russland waren Sie hingegen ein sehr angesehener Spieler. Haben Sie es genossen, geschätzt zu werden?

Kuranyi: Ich wurde in Russland ganz anders aufgenommen als zu dieser Zeit in Deutschland. Obwohl Spieler aus dem Ausland immer mit gewissen Vorurteilen zu kämpfen hatten, wurde ich sehr geschätzt und von den Fans gefeiert. Die Leute waren da unvoreingenommen und haben anerkannt, dass ich nicht nur zum Geld kassieren gekommen bin, sondern mich immer voll reingeknallt habe.

SPOX: Welche Vorurteile meinen Sie?

Kuranyi: Viele Spieler wechseln nur nach Russland, um dort viel Geld zu verdienen, kommen dann aber mit dem Land und den Leuten nicht wirklich klar und verlassen die Vereine schon nach kurzer Zeit wieder. Bei mir war das anders und das haben die Fans mit der Zeit auch festgestellt.

SPOX: In Ihrer SPOX-Kolumne haben Sie oft von der Zeit in Russland geschwärmt. Zuletzt äußerten Sie sich aber mehrfach kritisch zum Rassismus-Problem. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Kuranyi: Ich kann sowas einfach nicht verstehen. Bei einem unserer Spiele gegen Torpedo Moskau wurden zwei farbige Spieler von uns beschimpft und mit Affenlauten verhöhnt. Ich war entsetzt, sowas miterleben zu müssen.

SPOX: Wie wurde innerhalb der Mannschaft damit umgegangen?

Kuranyi: Wir haben die Jungs damals aufgebaut und Sie daran erinnert, dass das einige wenige, dumme Leute sind, die mit Fußball nichts zu tun haben. Daraus darf man sich persönlich einfach nichts machen. Nichtsdestotrotz sollten sich alle, die im Fußball arbeiten, dazu aufgefordert fühlen, an dieser Situation schnell etwas zu ändern.

SPOX: Nach fünf Jahren haben Sie nun entschieden, wieder zurückzukommen. Was hat sie dazu bewogen?

Kuranyi: Es war einfach an der Zeit, nach Deutschland zurückzukehren. Unser Leben in Russland war toll, aber meine Familie und ich wollten unbedingt wieder zurück. Hier ist einfach unsere Heimat, unsere Familien, unsere Freunde, unser Lebensmittelpunkt.

SPOX: Zunächst war gar nicht klar, wohin Ihr Weg gehen würde. Um fit zu bleiben, trainierten Sie beim 1. FC Saarbrücken mit. Lagen Ihnen dort schon Angebote aus dem Ausland vor?

Kuranyi: Ja, davon gab es viele. Aber das kam für mich nicht mehr in Frage, ich wollte unbedingt in der Bundesliga spielen. Dafür habe ich auf viel Geld verzichtet.

SPOX: Spielte der Gedanke, Ihren Ruf in Deutschland nochmal zu verbessern, bei Ihrer Entscheidung ebenfalls eine Rolle?

Kuranyi: Nein, ich muss hier keinem mehr etwas beweisen - nur mir selber: Dass ich immer noch in der Lage bin, Bundesliga zu spielen und einem Team wirklich weiterzuhelfen.

SPOX: Nachdem Sie anfangs noch etwas Rückstand hatten, war Ihre Fitness zuletzt immer besser. Was können wir in den kommenden Spielen von Ihnen erwarten?

Kuranyi: Auf jeden Fall einiges. Ich habe die letzten drei Wochen genutzt, um topfit zu werden. Jetzt bin ich wieder voll auf der Höhe, will Tore schießen, Vorlagen geben und dem Verein dabei helfen, erfolgreich zu sein.

SPOX: Sie geben an, auch Führungsaufgaben übernehmen und junge Spieler verbessern zu wollen. Ist das eine Aufgabe, die Sie sich auch nach Ihrer Karriere vorstellen können?

Kuranyi: Absolut. Ich weiß zwar noch nicht, in welche Richtung es genau gehen soll - zumal ich ja auch erstmal noch ein paar Jahre spielen will. Aber danach kann ich mir schon vorstellen, zum Beispiel Trainer zu werden.